kibibetter No. 12
Inhalte überwinden | Kommunikation faken | Betroffenheit heucheln | Fragen starten
Na?!
Mögest du in interessanten Zeiten leben!
Dieser als “Chinesischer Fluch” bekannt gewordene böse Wunsch wurde zum Motto der 58. Biennale Venedig gewählt. Warum auch immer. Nun. Jedenfalls war das 2019. Und wir nun um eine Lektion reicher: Chinesen machen keine halben Sachen. Sogar ihre Flüche haben es einigermaßen in sich.
Flüche verschiedenster Herkunft (aber mit gemeinsamer Wurzel*) belasten nicht nur unsere Zeit. In meiner Marketing-Bubble ist zu beobachten: Auch die sonst eher redseligen unter den “Content Creators” scheinen sich belastet zu fühlen.
Insbesondere in meinem favorisierten Social Network LinkedIn ist mir in den letzten Tagen wiederholt und in verschiedenen Variationen diese Aussage untergekommen:
“Was ich zu sagen hätte, ist eigentlich total belanglos angesichts der aktuellen Ereignisse.”
Social Influencer:innen wie beispielsweise Annahita Esmailzadeh oder Céline Flores Willers machen so verblüffend offenherzig auf die Redundanz weiter Teile ihrer eigenen Tätigkeit aufmerksam. Constantin Schmutzler, Gründer der Berlin Startup School, verbindet seine Frage nach der besten Hilfe mit einem Foto, das seine geradezu brutale Hilflosigkeit unterstreicht: Es zeigt ihn selbst, vor einer weißen Wand, unter einer Lampe. Die Augen sorgenvoll geschlossen, hält er seinen Kopf in seinen Händen, wozu eine leidvolle Verrenkung notwendig ist. Die Bildstimmung ist mindestens so verzweifelt wie er selbst. Ein Heureka-Moment, das wär’s jetzt, danach verzehrt, danach zermartert sich der Protagonist sein ausgerechnet in dieser schweren Stunde so unzuverlässiges Hirn. “A Place for Ideas” steht auf seinem T-Shirt, das seine Startup-Schule bewirbt. Grotesk. Überhaupt, Bilder: Auch die beiden zuerst erwähnten Damen unterstreichen ihre Einlassungen mit ausgewählten Bildern. Frau Willers blickt anders als sonst in die Kamera: ernst. Der Hintergrund: verschwommen. Und Esmailzadeh verlässt die von ihr geschaffene, eigentlich sehr stringente Personal Brand – spricht sie doch sonst mit höchster Stetigkeit aus einem Canva-Rahmen zu uns, ihren jeweiligen Beitrag zu einer kurzen, möglichst zitierbaren Sequenz komprimiert, zu – ja: snackable Content. Und Content ist ja bekanntlich King. Doch wovon eigentlich?
In The Court of the Content King
Die Hierarchie im Marketing war lange klar: Content ist der absolute Herrscher. Auch an Weltfrauentagen. Auch, wenn irgendwo Krieg ist. Und egal, worum es geht – es geht um die Inhalte. Inhalt ist König und ihm ist unbedingt Folge zu leisten. Unter ihn, den Hegemon, ist sich unterzuordnen. Alle anderen Marketing-Disziplinen haben das zu beherzigen.
Wirklich?
Tatsächlich wackelt der Thron von König Content. Das wird schon von Googles Autocomplete-Funktion dokumentiert (und natürlich kommt sie nicht ohne so einen seltsamen provinziell-augenzwinkernden Sexismus (“hat die Hosen an”) aus. Ist ja erst 2022.):
Der Königsthron wackelt also. Eine Verräterbande, offenbar angeführt von den Aufrührlern “Engagement” und “Distribution” sägt an der Hierarchie. Die Transparenz, mit der dieser Kampf geführt wird, hilft uns, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum beispielsweise LinkedIn so voll mit Scheiße ist.
Warum gibt es soviel Scheiß-Content und nicht vielmehr nichts?
Inhalte, die einfach irgendwo existieren, aber von niemandem konsumiert werden können, sind nicht viel wert. Also … vielleicht haben sie irgendeine Art von ideellem Wert für den/die Urheber:in. So wie das Briefmarkenalbum des verrückten Ed Edison ja auch eher therapeutischen denn renditeorientierten Nutzen hatte.
Aber klar: Man schafft Inhalte in erster Linie, weil sie von jemandem gesehen, gehört, gelesen, bewundert werden sollen. Oder: damit sie gesehen, gelesen, gehört werden. Inhalte bekommen ihren Wert oft erst, indem sie betrachtet werden.
Musiker schreiben Lieder, damit sie (die Musiker und die Lieder) gehört werden. Autorinnen schreiben Bücher und Artikel, weil das Zeug von jemandem gelesen werden soll. Künstler:innen malen Bilder und fotografieren und behauen Steine, weil jemand sich das angucken soll.**
Das bedeutet, dass Inhalte irgendwelche Rahmen brauchen. Also nicht nur rein ideelle oder kontextuelle oder gar hölzerne, sondern: Orte, Gelegenheiten an denen sie dergestalt stattfinden können, dass sie ihr Publikum finden. Konzerte, Festivals, Streamingdienste, Werbespots; Ausstellungen, Biennalen, Triennalen, Skulpturengärten, Instagram; Bücher, Lesungen, Zeitungen, Newsletter; usf. Im Marketing spricht man von Kanälen. Oder von Distribution.
Im Marketing verfolgen Inhalte rationale, ökonomische Zwecke. L’art pour l’art? Das gilt nichts im Marketing und ein Diktum, nach dem jeder Zweck die Kunst verunstalte, würde Kopfschütteln und -schmerzen verursachen. Im Gegenteil: Das gekonnte Erschaffen von Inhalten zum erfolgreichen Verfolgen von Marketing-Zielen gilt, wenn schon nicht als hohe Kunst, dann doch immerhin als eine Art Kunsthandwerk. Und auch Marketing-Inhalte brauchen Rahmen, innerhalb derer sie stattfinden: Social Media-Plattformen, Messen, Webinare, und so fort.
Auch Marketing-Inhalte beginnen ihre Zwecke zu erfüllen, indem sie betrachtet werden. Doch ist es eben nur ein Anfang. Inhalte, die einfach irgendwo existieren, aber von niemandem konsumiert werden können, sind nicht viel wert. Das gilt für die ökonomischen Marketing-Ziele genauso wie für die Zwecke der Kunst als Stimulans (Fritz W. Nietzsche zur vermeintlichen Zwecklosigkeit der Kunst). Marketer:innen wenden daher ein Großteil ihrer Zeit dafür auf, eine möglichst pragmatische, zweckorientierte Mischung aus Inhalten und Kanälen zu komponieren. Typischerweise wird so etwas in Form einer Marketing- oder Content-Strategie festgehalten. Zentrale Überlegungen hierbei sind die Persona sowie etwas, was man Customer Journey nennt. Hierbei geht es darum, eine modellhafte Abstraktion der eigenen Zielgruppe in ihrem jeweiligen Vorgehen bei der Informationsgewinnung gut genug durchschaut zu haben, dass man in die Lage kommt, Antworten auf die potenziellen Fragen auf den jeweils favorisierten Kanälen zu liefern.
Kein Wunder also, dass sich die Hierarchie verschoben hat: Wenn Inhalte nur soviel wert sind wie ihre Sichtbarkeit erlaubt, alteriert die Priorität des Marketings vom Schaffen von Inhalten hin zu ihrer Verteilung.
Und es kommt noch etwas hinzu: Das Schaffen von Inhalten ist an eine Reihe Probleme und Bedingungen geknüpft. Zuerst muss man etwas haben, worüber es sich lohnt einen Artikel zu verfassen, eine Infografik zu konzipieren und zu erstellen, ein Interview zu führen oder ein Webinar zu halten. Dann braucht es konzeptionelle, redaktionelle Überlegungen, die sowohl den Content selbst als auch schon seine “Distribution” mitdenken. Schließlich soll der jeweilige Inhalt auf dem entsprechenden Kanal seine bestmögliche Wirkung entfalten. Dann folgt die Ausführung. je nach Mediengattung ist die mit mehr oder weniger Aufwand verbunden. Schließlich distribuiert man die Inhalte. Vulgo: Man teilt sie auf den zur Verfügung stehenden Kanälen. Und hinterher kommt irgendeine Form der Analyse oder Erfolgsmessung.
Die reine Distribution der Inhalte ist vom Aufwand her der kleinste Part. Aber derjenige, der am Ende für den Erfolg oder Misserfolg eines Content-Stücks ausschlaggebend ist – und außerdem die Messbarkeit erst ermöglicht.
Dies führt dazu, dass die Distribution von Inhalten oft als wichtiger erachtet wird, als der Inhalt selbst. Content ist King? Jaja, aber Distribution ist halt Queen, und die hat die Hosen an.
Das Ergebnis können wir in unseren LinkedIn-Feeds bewundern: In kanalspezifischen Formaten (Kurzumfragen, Mini-Präsentationen, Postings, …) werden schier unendlich viele Postings geteilt. Viele folgen dabei Best Practices, die sicherstellen sollen, dass die Postings möglichst viel Resonanz erzielen. Was wiederum einerseits den Aufwand erhöht, andererseits aber der Binnenlogik der Sozialen Netzwerke folgt, deren Algorithmen wiederum psychologische Dynamiken zugrunde liegen. Ein Mangel relevanter Themen oder Inhalte ist kein Problem. Viele Postings bleiben einfach selbstreferentiell.
Der Erkenntnisgewinn ist in solchen Fällen irgendwo in der Nähe von Null. Doch auch das ist nicht weiter schlimm. Denn wenn “Content is King” der substanzielle Imperativ des Marketings ist, dann ist “Man kann nicht nicht kommunizieren” sein Kalenderspruch. An jedem Tag.
Worüber herrscht König Content?
Worüber also, um zur Eingangsfrage zurückzukehren, herrscht also King Content? Als Feigenblatt für inhaltsleere und erkenntnislose Selbstzweck-Kommunikation wird König Content längst missbraucht, der Begriff der Marionetten-Regimes ist ja eh grad in aller Munde. Der meiste Content scheint geradezu dazu zu dienen, Inhalte zu überwinden und Illusionen von Erkenntnis und Kommunikation zu schaffen. Das Reich des Königs Content ist geschrumpft auf seine bloßen Insignien: Statt Zepter, Krone, Thron sind das Text, Bild, Umfrage, Handyvideo, die dazu genutzt werden, die Illusion irgendeiner Form von Relevanz aufrecht zu erhalten. Ihn vollends abzusetzen ist indes unmöglich: Weil Marketing und Digitale Kommunikation sich auf Inhalte berufen, wird diese Inszenierung gebraucht, sie legitimiert den Berufsstand und entwertet zugleich seinen Anspruch.
Natürlich lässt sich dieses Dilemma lösen, und tut nur ein kleines bisschen weh: Mit einem radikalen Commitment für echte Inhalte. Doch das ist eine andere Geschichte, sie soll in einem anderen Newsletter erzählt werden.
New Bits on the Blog
Methoden-Quickie: Fragenstarter
Viele von uns wollen – und/oder müssen – regelmäßig Antworten auf die unterschiedlichsten Problemstellungen finden. Dazu gibt es Meetings, Workshops, verschiedene Brainstorming-Formate. Aber bevor wir antworten können, müssen wir zuerst wissen, worauf. Dieser Methoden-Quickie stellt ein Format vor, mit dessen Hilfe aus Herausforderungen lösungsorientierte Fragen werden.
KIBI-BITES
Was die Kibibitse in den vergangenen Wochen so beschäftigt hat – Artikel, Bücher, Filme, News.
Wir haben lange überlegt, ob und wie wir der aktuellen Lage auch in unserem Newsletter einen Raum bieten – und haben uns für den folgenden entschieden: Das Team vom Katapult-Magazin verzichtet kollektiv auf 50 Prozent Gehalt, um 20 Journalist:innen in und aus der Ukraine einzustellen. Sie berichten außerdem aktuell und ohne Paywall über den Krieg, sprechen mit Expert:innen und unterstützen die (soweit möglich) freie Berichterstattung aus der Ukraine und Russland. Das finden wir total fantastisch. Wer von Euch das auch so sieht, kann die Katapulte hier mit einem Abo supporten.
Ich persönlich finde es überaus befremdlich, zwischen Fotos und Videos aus Kriegsgebieten in den sozialen Medien lustige Tiervideos oder peinliche Werbung eingeblendet zu bekommen. Das macht die Tatsache, dass wir Zerstörung und menschliches Leid aus der Sicherheit unseres Wohnzimmers live mitverfolgen, noch abstruser, sagt aber auch viel über uns und unsere Weltsicht durch soziale Medien aus. Zwei kluge Artikel möchte ich dazu empfehlen, die sich mit digitalen Bystandern [EN] und falscher Betroffenheit [EN] angesichts des Krieges in der Ukraine beschäftigen und zum Nachdenken anregen.
Wer sich gerne einem anderen Thema zuwenden möchte und etwas Zerstreuung sucht, dem:der lege ich die folgende Artikelreihe von Katy Kelleher wärmstens ans Herz. The Ugly History of Beautiful Things hält, was der Titel verspricht: düstere Geheimnisse hinter für uns mittlerweile alltäglich gewordenen Dingen – jedes Mal unterhaltsam und mitreißend geschrieben. Die Texte bereichern jeden Unnützes-Wissen-Speicher und erinnern uns daran, dass es neben Kriegen auch noch andere menschliche Abgründe gibt. Bislang hat Katy sich u.a. Spiegel, Perlen, Orchideen und Parfüm [alle EN] zur Brust genommen.
„Kreditwürdigkeit“, „Zahlungsfähigkeit“, „Inflation“ – all diese Begriffe bezeichnen bei Lichte besehen Phänomene, in denen gesellschaftliche Konflikte virulent sind und politisch ausgehandelt werden. Von daher ist die Ansicht, es ginge lediglich um „neutrale“ technische Steuerungseffekte irreführend. Diese Sorte von Steuerung gibt es in Wahrheit nirgendwo. Doch stoßen solche Erkenntnisse der Sozialwissenschaften in öffentlichen Debatten, in den Parlamenten, Talkshows, in den Twitch-Chats und Klassenräumen nicht auf Resonanz. Dort hört und liest man, Geld sei bestenfalls dazu da, den Tausch zweier Güter möglichst reibungslos abzuwickeln. Es handle sich um einen einfachen Vorgang, dessen Bedingungen – wann er gelingt, wann er scheitert – ebenso objektiv wie universell seien: Wer ein Brot verkauft, also gegen Geld eintauscht, muss den Gegenwert dieses Brotes erhalten, soll er mit seinem im Tausch ergatterten monetären Guthaben seinerseits einkaufen können. A verkauft an B und kauft bei C, und solange der Wert des Tauschmittels in diesen Transaktionen stabil bleibt, ist das Geld ein neutrales Tauschmittel, ja funktioniert gemäß seiner Bestimmung wirklich als Geld. Wenn etwas derart universelle und ubiquitäre Gelingensbedingungen aufweist – also entweder richtig funktioniert oder gar nicht – dann muss die Herstellung und Überwachung dieser Bedingungen doch technischer Natur sein, eine bloße Verwaltungsdienstleistung, die in den Händen eines mit Ingenieurwissen geschulten Personals liegt. Aufbauend auf diese simple und intuitive Vorstellung verengt der hegemoniale politische Diskurs das Operationsgebiet der Geldpolitik auf die technische Verwaltung des Geldpreises, für die eine einzige Behörde zuständig ist, die Zentralbank. Doch verdeutlichen die Sanktionen gegen Russland jetzt sogar einer breiten Öffentlichkeit, dass das Geld, diese höchst komplexe Architektur hierarchisierter Ansprüche, stets (auch) ein Politikum war, ein durchaus umstrittener „Stoff“, der Außen- wie Innenpolitiken animierte.
Aaron Sahr in Soziopolis über das landläufige Missverständnis des Geldes und warum es keine Effekthascherei ist, wenn mit Blick auf die Sanktionen gegen Russland und Belarus in der Presse von financial warfare oder, etwas eingeschränkter, von monetärer Kriegsführung gesprochen wird.Nica Libres At Dusk. Was für ein toller Song:
So viel für heute. Gehab Dich wohl! Bis zum nächsten kibibetter. Und wenn Du das hier gern gelesen hast: #sharingiscaring – Danke <3
* der Wurzel des Übels
** Jaja, das ist ein ganz kleines bisschen verkürzt.